Empfehlungen zur Wiederversorgung mit Hörgeräten nach Ablauf von 6 Jahren
Im Rahmen der Beratungsarbeit im Deutschen Schwerhörigenbund (DSB) erfahren wir seit etwa einem halben Jahr gehäuft, dass Anträge auf eine Wiederversorgung mit Hörhilfen nach Ablauf von 6 Jahren abgelehnt werden. Betroffen sind Versicherte von zwei Ersatzkassen mit insgesamt 7,2 Millionen Versicherten. Der DSB hat von diesen beiden Kassen auf Anfrage inzwischen eine Stellungnahme erhalten.
Bruch mit der bisherigen Praxis
Bei dem Vorgehen handelt es sich offensichtlich um einen Bruch mit der bisherigen Praxis. Denn bis dato – und seit mehreren Jahrzehnten – war der Anspruch auf eine Wiederversorgung nach diesem Zeitraum unter allen Krankenkassen unstrittig und wurde nie abgelehnt.
In ihren Stellungnahmen streien die beiden betroffenen Kassen auch nicht ab, dass sie ihr bisheriges Verhalten in diesem Punkt geändert haben. Sie begründen das mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzbuches und der Tatsache, dass Hörgeräte teilweise auch länger als 6 Jahre funktionstüchtig bleiben.
Die Rechtslage
Das neue Vorgehen steht nicht nur im Widerspruch zur bisherigen Praxis und bedeutet eine gravierende Verschlechterung für die Versicherten. Die beiden Kassen handeln nach Auffassung des DSB auch definitiv gegen geltendes Recht, unmittelbar gegen den § 31 Hilfsmittelrichtlinie und mittelbar gegen das Gebot des technischen Fortschritts nach § 2 SGB V.
Rechtlich ist der Versorgungszeitraum von 6 Jahren in § 31 der Hilfsmittelrichtlinie verankert. Dieser sieht vor:
§ 31 Wiederverordnung
„1 Die Wiederverordnung von Hörgeräten vor Ablauf von fünf Jahren bei Kindern und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs sowie vor Ablauf von sechs Jahren bei Erwachsenen bedarf einer besonderen Begründung. 2 Ein medizinischer Grund kann z.B. die fortschreitende Hörverschlechterung sein. 3 Technische Gründe ergeben sich aus dem Gerätezustandsbericht.“
Die Festlegung einer besonderen Begründung vor Ablauf des jeweils genannten Zeitraums setzt voraus, dass es einer solchen Begründung nach Ablauf nicht bedarf. Der Anspruch auf eine Wiederverordnung nach Ablauf von 6 Jahren ist also erkennbar nicht mit besonderen Gründen wie einer Hörverschlechterung oder dem Gerätezustand zu unterlegen.
Der Zeitraum von 6 Jahren hat folgerichtig in viele Regelungen der Hörversorgung Einzug gehalten:
- In allen Versorgungsverträgen der Krankenkassen mit den Hörakustikern wird der Versorgungszeitraum auf 6 Jahre festgelegt.
- In allen Versorgungsverträgen wird die Zustimmung der Krankenkassen zu einer Folgeversorgung nur bei einer „vorzeitigen Wiederversorgung“ gefordert.
- Indirekt ist der regelmäßige Versorgungszeitraum in den Versorgungsverträgen auch durch die Befristung der Reparaturkostenpauschale auf 6 Jahre definiert. Spätere Reparaturen bedürfen der Einzelabrechnung.
- Im Hilfsmittelverzeichnis der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird die Reparaturfähigkeit der Hörhilfen auf 6 Jahre gesichert: „Es dürfen nur Hilfsmittel abgegeben werden, deren Reparatur für mindestens 6 Jahre sichergestellt ist.“
- Auch in der Begutachtungsanleitung der GKV wird für die Hörversorgung eine „Regelgebrauchszeit“ für Hörgeräte auf 6 Jahre unterstellt.
Der 6-Jahres-Zeitraum für eine bedingungslose Folgeversorgung leitet sich aus dem Anspruch der Versicherten auf eine Leistung ab, die hinsichtlich Qualität und Wirksamkeit den medizinischen Fortschritt berücksichtigt (§ 2 SGB V):
§ 2 Abs. 1 SGB V: (...) „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.“
Dem Zeitraum von 6 Jahren liegt die Erfahrung zugrunde, dass sich in diesem Zeitraum die Hörgerätetechnik derart fortentwickelt hat, dass die ursprünglich ausgegebenen Systeme nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik entsprechen. Die Hersteller von Hörgeräten bringen regelmäßig alle zwei Jahre eine neue Gerätegeneration mit technischen Weiterentwicklungen heraus, die auch erhebliche Fortschritte beim Sprachverstehen und Richtungshören umfassen. Eine Gebrauchszeit von 6 Jahren umfasst also 3 Gerätegenerationen. Da sich die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts bei Hörgeräten – insbesondere auch in Bezug auf ihre audiologischen Eigenschaften und Gebrauchsvorteile – in den letzten zwei Jahrzehnten eher weiter beschleunigt als verlangsamt hat, besteht auch kein Anlass, diesen regelmäßigen Versorgungszeitraum zu verlängern.
Wirtschaftlichkeitsgebot und technischer Fortschritt
Der DSB stellt keinesfalls das Wirtschaftlichkeitsgebot für die gesetzliche (und im Übrigen auch private...) Krankenversorgung in Frage. Der DSB vertritt auch nicht die Auffassung, dass eine Wiederversorgung nach sechs Jahren „an der Zeit“ und also automatisch notwendig sei. Wer am Ende dieses Zeitraums weiterhin mit Hören und Sprachverstehen seiner Geräte zufrieden ist, hat gute Gründe, an ihnen festzuhalten. Oft hat er oder sie ja vor sechs Jahren auch eine erhebliche Zuzahlung geleistet, um Geräte mit einem angemessenen technologischen Standard zu erwerben.
Abzulehnen ist aber, dass es im anderen Fall – einer Wiederversorgung wegen eines besseren Hörausgleichs aufgrund audiologischer Fortschritte – einer besonderen Begründung durch Versicherte oder Hörakustiker bedarf. Denn selbst in seiner einfachsten Interpretation – der sparsamen Mittelverwendung – gilt das Wirtschaftlichkeitsgebot nur für den Vergleich zwischen zwei hinsichtlich der Zweckmäßigkeit, Angemessenheit, Qualität und Wirksamkeit gleichwertiger Alternativen.
Offensichtlich: Entscheidung nach Kassenlage
Leider können auch die weiteren Argumente des beiden Krankenkassen nicht erklären, was sich gegenüber der Situation zuvor geändert hat. Sie sind auch wenig geeignet, die eindeutige Rechtslage zu entkräften. Letztich liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine Entscheidung nach Kassenlage handelt, die ihre juristische Begründung noch sucht. Angesichts der klaren rechtlichen Situation erwartet der DSB auch nicht, dass andere Kassen dem Beispiel der beiden folgen.
Zwar weisen die betreffenden Kassen in ihren Stellungnahmen darauf hin, dass sie auf Antrag und mit entsprechender Begründung die Kosten einer Wiederversorgung nach 6 Jahren übernehmen werden. Da dem DSB inzwischen ein Beispiel bekannt ist, wo eine solche Wiederversorgung selbst nach 10 Jahren abgelehnt wurde, stellt sich aber die Frage, ob dieses Versprechen ohne richterlichen Entscheid überhaupt einlösbar sein wird.
Empfehlung des DSB: Unbedingt ärztliche Verordnung holen
Um im Antragsverfahren und der anschließend anzustrengenden Klage die dümmsten Fallstricke zu vermeiden, rät der DSB Versicherten der betroffenen Kassen dringend, sich für eine Wiederversorgung auch nach einem Zeitraum von 6 Jahren unbedingt eine Verordnung vom HNO-Arzt zu holen. Denn das schlichteste Argument der beiden Kassen – dass die HilfsM-RL nur die Verordnungsfähigkeit durch die Fachärzte (und nicht die Wiederversorgung durch die Hörakustiker) regelt – könnte ohne eine ärztliche Verordnung später vor Gericht tatsächlich den Anspruch formaljuristisch zu Fall bringen.
Darüber hinaus sollten sich Betroffene darauf einstellen, dass sie auf eine harte Ablehnung ihrer Kasse stoßen. Sie sollten das Verfahren möglichst schnell und schmerzfrei durch die Ablehnung von Antrag und Widerspruch bringen und ihren Anspruch am Ende vor Gericht zur Klage einreichen. Denn nur dort werden sie ihn durchsetzen können.
Bei Fragen zum Thema Hörgeräteversorgung können Sie sich jederzeit an unsere Beratungsstellen wenden.