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Deutscher Schwerhörigenbund e. V.

Spektrum Hören 5 /2017

Vorwort des Vizepräsidenten des DSB e.V., Dr. Norbert Böttges

Liebe Leserinnen und Leser!

Es gibt Bücher, deren Titel mehr noch als ihr Inhalt eine bestimmte Lebenserfahrung auf den Punkt bringen. „Lerne lachen ohne zu weinen“ – unter diesem Titel versammelt Kurt Tucholsky 1931 bitterböse Texte der politischen Verzweiflung, gepaart mit ironischen Anekdoten und humorvollen Gedanken- und Sprachstücken aus dem täglichen Leben.

Lerne lachen ohne zu weinen – dieser Rat kommt mir manchmal in den Sinn, wenn ich von Schicksalen schwerhöriger Menschen höre. Zum Beispiel Berufstätige, die seit jungen Jahren hörgeschädigt sind. Schon Schule und Ausbildung waren ein großer Kraftakt. Wohl den Stunden, in denen der Lehrer Frontalunterricht praktizierte. Da konnte man sich in die erste Reihe setzen und mit hoher Konzentration dem Unterricht folgen. Zwischenfragen und Gruppenarbeit glichen dagegen einer Seefahrt im Nebel. Der halbe Unterricht strich nutzlos vorbei. Irgendwie hat man sich durchgeschlagen – wenn auch mit gebremsten Erfolg. Jetzt, nach den ersten zehn Berufsjahren, ist man am Ende der Kräfte. Kurz vor dem Burnout, sucht man erstmals ernsthaft Hilfe und Unterstützung.

Oder das betagte Paar. Er, rüstig, hoch in den Achtzigern, wird konfrontiert mit der Altersschwerhörigkeit seiner Frau. Mittlerweile ist sie praktisch ertaubt. Die Kommunikation schrumpft auf das unbedingt Nötige. Missverständnisse, Frustration, Aggression, Sprachlosigkeit: Schwerhörigkeit kann auch eine jahrzehntelange Partnerschaft unvorbereitet vor eine regelrechte Zerreißprobe stellen.

Ja, es gibt Hilfsmittel. Und ja, die Hilfsmittel werden immer besser. Und natürlich: Wir nutzen sie. Aber leider führen diese angeblich so perfekten Hilfsmittel dazu, dass die objektiv verbleibenden Einschränkungen und die unversorgten Ecken umso mehr bagatellisiert, verleugnet oder verschwiegen werden. Hier endet die professionelle Beratung. Hier beginnt die Selbsthilfe. Die Innensicht der Betroffƒenen, die schmerzhaft erworbene Akzeptanz der eigenen Einschränkungen, das positive Beispiel, dass sich Schwierigkeiten überwinden lassen und die Solidarität der Gleichbetroffƒenen: so und vermutlich nur so lässt sich glaubwürdig vermitteln: Lerne lachen ohne zu weinen! Leugne deine Schwierigkeiten nicht, sondern begreife sie als Aufgabe. Du bist nicht allein.

EUTB – die „ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ – ist ein neues Programm des Bundes, um jenseits der Beratung von Ärzten, Hörakustikern sowie Sach- und Sozialarbeitern eine unabhängige Beratung „von Betroƒffenen für Betroƒffene“ aufzubauen. Der Deutsche Schwerhörigenbund macht dies bereits seit Jahrzehnten auf ehrenamtlicher Basis an den Standorten seiner Ortsvereine. Jetzt kann daraus ein bundesweites, Flächendeckendes Angebot werden. Für die Organisationen der Selbsthilfe ist der damit verbundene organisatorische Rahmen eine große Herausforderung. Aber es ist von elementarer Bedeutung, dass die neue Beratungsarbeit von Gleichbetroƒffenen geleistet wird. Sonst drohen die „unabhängigen“ Beratungsstellen nur eine Wiederholung dessen zu werden, was es sowieso schon gibt. Drücken wir den Verbänden der Selbsthilfe die Daumen, dass sie das neue Programm mit viel Leben füllen können!

Mit herzlichen Grüßen

Dr. Norbert Böttges
Vizepräsident des DSB

 

Sozialpolitik/Recht/Bauen

  • Wahlprüfsteine für Parteien und Kandidaten

Die Bundestagswahlen stehen vor der Tür. Für die kommende Legislaturperiode gibt es viele Erwartungen an die Handlungsfelder der Politik. Hörgeschädigte Menschen werden ihre Wahlentscheidung sicher kaum allein von ihren Erwartungen an die Sozialpolitik abhängig machen. Um aus ihrer Sicht aber die notwendigen Akzente zu setzen, haben der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) und die Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft (DCIG) fünf Wahlprüfsteine beschlossen, die ihre Erwartungen an die Kandidaten und Parteien für die nächsten Jahre dokumentieren.

  • Versorgungsmedizin-Verordnung: Große Änderung nochmal verschoben

Die „Versorgungsmedizin-Verordnung“ (VersMedV) regelt die Bewertung von Schädigungsfolgen und Nachteilsausgleichen von Menschen mit Behinderungen. Dazu enthält sie die „versorgungsmedizinischen Grundsätze“, nach denen eine Teilhabebeeinträchtigung letztlich durch die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) festgestellt wird. Die Verordnung hat seit ihrem Inkrafttreten bereits fünf Überarbeitungen erfahren. Die sechste Überarbeitung wird derzeit abschließend beraten und soll noch in diesem Jahr verabschiedet werden. – Für Menschen mit Hörschädigung werden die geplanten Änderungen nur in besonderen Fällen Auswirkungen haben. Der „große Knall“ wurde um eine weitere Runde aufgeschoben.

Neues aus den Verbänden

  • Neustart für DSB-Internetseite

Viele werden es schon bemerkt haben: Der Onlineauftritt des Deutschen Schwerhörigenbund (DSB) kommt im neuen Gewand daher. Unter der Adresse www.schwerhoerigen-netz.de bündelt der DSB seit sehr vielen Jahren Informationen zu den verschiedensten Themen im Internet. Das Motto „Hören. Verstehen. Engagieren“ wird hier gelebt: Jeder Einzelne wird dazu eingeladen, nicht nur Informationen zu konsumieren, sondern sich aktiv einzubringen.

  • Future Loops Kongress: Hören und verstehen im öffentlichen Raum

Barrierefreiheit im öffentlichen Raum bedeutet für schwerhörige Menschen, dass sie verstehen, was gesagt wird, und so teilhaben, mitwirken und entscheiden können. Dass Barrierefreiheit nicht nur rollstuhlgerecht und optisch kontrastreich heißt, müssen viele Fachleute immer noch verstehen. Deshalb lädt der DSB im Rahmen des internationalen Kongresses nicht nur die Betroffenen, sondern auch Architekten, Bauplaner, Veranstalter und Tontechniker, Bauherren für private und öffentliche Gebäude sowie Verantwortliche in Politik, Bauverwaltung und Ministerien dazu ein, sich im Rahmen von Fachvorträgen ein Bild davon zu machen, wie sich Hörbarrierefreiheit heute darstellt und realisieren lässt.

  • Willibald Wagenbach: Pionier des Mundabsehens feiert 90. Geburtstag

Eigentlich wollte er Priester werden. Als er dann wegen seiner Morbus-Menière-Erkrankung das Theologiestudium aufgeben musste, war dies für ihn eine große Enttäuschung. Nach einer Operation 1972 schrieb ihm der behandelnde Arzt auf einen Zettel: „Sie müssen das Absehen vom Mund erlernen!“ Das wurde damals in Frankfurt an einem Institut der Universitätsklinik gelehrt. Von dort nahm er auch die Anregung mit, zu Hause in Vallendar und Koblenz selbst Kurse anzubieten. Willibald Wagenbach hat sein Gehör verloren, sein Schicksal aber angenommen und vielen anderen geholfen. Aufgrund seiner Verdienste hat ihm der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) 2004 die höchste Auszeichnung der Verbandes, die Margarethe-von-Witzleben-Medaille, verliehen. Jetzt feierte der Pionier seinen 90. Geburtstag.

Termine/Veranstaltungen

  • Die Entdeckung der Langsamkeit

Das traditionelle „Kommunikationsseminar mit Literatur“ in Paderborn hatte sich in diesem Jahr das Thema „Reisen in der Literatur“ vorgenommen. Vom 7. bis zum 9. Juli trafen sich 15 Teilnehmer in der schönen ostwestfälischen Kreis- und Bischofsstadt zum hörbarrierefreien Erfahrungs- und Literaturaustausch.

Teilhabe/Rehabilitation

  • Keine Achterbahn für Hörgeschädigte?

Jahrelang haben sie anstandslos an allen Attraktionen des Brühler Freizeitparks Phantasialand teilgenommen. Ende Juni dann verweigerte eine Mitarbeiterin zwei gehörlosen Besuchern die Fahrt auf einer Achterbahn. Sie hatte die beiden in Gebärdensprache kommunizieren sehen und berief sich auf Sicherheitsvorschriften, die eine Teilnahme von gehörlosen Menschen nicht zulassen. Der Vorfall rief große Empörung unter den Gehörlosen hervor. Handelt es sich bei einem solchen Ausschluss nicht um einen klaren Fall von Diskriminierung?

  • Nur wer röhrt, wird auch gehört

Was haben röhrende Hirsche und hörbeeinträchtigte Menschen gemeinsam? Darüber berichtet Ihnen  in einem Bericht aus Berlin Herbert Hirschfelder.

  • Ein Stück Barrierefreiheit?

Die Stadt Hürth im Rheinland hat jetzt einen Schritt zur Barrierefreiheit für schwerhörige Menschen gemacht. Seit Mitte 2016 verfügt sie über eine mobile Höranlage MobileConnect. Dabei handelt es sich um ein „latenzarmes Audio-Streaming System“ von Sennheiser, das an vorhandene Audioanlagen angeschlossen werden kann. Das DSB-Mitglied Edmund Köhler hatte die Gelegenheit, die Anlage zu testen.

  • WHO-Resolution gegen Hörverlust

Rund 3 500 Delegierte aus den 194 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nahmen an der diesjährigen 710. Weltgesundheitsversammlung in Genf teil, die am 31. Mai zu Ende ging. Sie absolvierten einen neuntägigen Sitzungsmarathon, verabschiedeten 19 Resolutionen und fassten 14 Beschlüsse. Seit über 20 Jahren waren auch wieder Hörverlust und Taubheit Gegenstand der Beratungen. In einer Resolution fasste die Versammlung die wesentlichen Ergebnisse zusammen und hat sich notwendige Maßnahmen vorgenommen.