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Deutscher Schwerhörigenbund e. V.

Die neuen Festbeträge für Hörhilfen müssen den aktuellen Stand der Medizintechnik berücksichtigen

Stellungnahme des DSB zur Überarbeitung des Festbetragsgruppensystems durch den GKV-Spitzenverband

Bei der angekündigten Überprüfung des "Festbetragsgruppensystems für Hörhilfen" darf es aus Sicht des Deutschen Schwerhörigenbundes DSB nicht nur darum gehen, über eine neue Höhe der Festbeträge zu befinden. Wesentliche Voraussetzung für die Neufestsetzung muss die Anpassung der technischen Anforderungen an die Hörsysteme an den aktuellen Stand der Medizintechnik sein. Die derzeitigen technischen Anforderungen können angesichts der rasanten technischen Entwicklung heute nicht mehr als "aktueller Stand der Medizintechnik" angesehen werden.

In Anlehnung an die Leitsätze des BSG-Urteils vom 17. Dezember 2009 stellen wir mit Blick auf den aktuellen Stand der Medizintechnik fest:

  • Beim Stand der Medizintechnik geht es um die Technik, die die bestmögliche Angleichung des Hörgeschädigten an das Hörvermögen Gesunder erlaubt.
  • Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der GKV ist "(…) grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet."
  • Die Festsetzung von Festbeträgen für Hörgeräte dient lediglich der Wirtschaftlichkeit der Versorgung an sich. Hinsichtlich der Höhe dürfen keine Einschränkungen des Leistungsstandards vorgenommen werden.

Zu den von den Krankenkassen anzuerkennenden Gebrauchsvorteilen im Alltagsleben gehört nicht nur das "Sprachverstehen im Störgeräusch und in größeren Personengruppen". Das "gesamte tägliche Leben" umfasst das häusliche und soziale Leben. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählt das Bundessozialgericht "das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums." Zu den Herausforderungen in diesem Zusammenhang gehören aus der Sicht hörgeschädigter Menschen insbesondere das selbstständige Wahrnehmen akustischer Vorkommnisse im Haus und im Straßenverkehr, die Kommunikation per Telefon, der Einkauf von Dingen des täglichen Bedarfs sowie die Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zu einigen dieser Lebensbereiche haben sich in den letzten Jahren bei Hörsystemen neue technische Standards etabliert, die im Alltag wesentliche Gebrauchsvorteile bieten.

Der Deutsche Schwerhörigenbund hat die relevanten Funktionalitäten aktueller Hörsysteme ausgewertet, die für die Gebrauchsvorteile im Alltagsleben von wesentlicher Bedeutung sind. In einem zweiten Schritt wurden diese Funktionalitäten bei einem repräsentativen Querschnitt der Hersteller hinsichtlich ihrer vergleichbaren Lieferbarkeit und verfügbaren Ausprägung bewertet. Daraus ergeben sich folgende Anforderungen an den aktuellen Stand der Technik:

(a) Technische Anforderungen an Hörhilfen für mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit (WHO 2 und WHO 3)

  • 3 wählbare Programme (4 Programme, falls die T-Spule nicht separat
    schaltbar ist.)
  • 12 Kanäle
  • Zuschaltbare Richtmikrofon-Technik
  • Störgeräuschunterdrückung, wahlweise adaptiv automatisch
  • Aktive Rückkoppelungsunterdrückung
  • Drahtlos-Anbindung vorgesehen (direkt oder über Streamer)
  • Qualifizierte Fernbedienung
  • T-Spule (separat schaltbar, eingebaut oder per Streamer).

Zur Begründung:

12 Kanäle
Für die fortgeschrittenen, heute aber weitgehend etablierten Techniken der Tonsignalverarbeitung liefern "mehr Kanäle" die Möglichkeit, diese Effekte gezielt auf ein-zelne Bereiche des Tonspektrums zu beschränken. So kann Sprache durch Richtwirkung im mittleren Sprachbereich hervorgehoben und ein Lüfterrauschen gezielt im Hochtonbereich unterdrückt werden. Deshalb bietet es generelle Vorteile, die Anzahl der Tonkanäle über das audiologisch Notwendige hinaus auszuweiten. Die Zahl von 12 Kanälen liegt im Mittelbereich des heutigen Herstellerstandards.

Drahtlostechnik
Die Drahtlostechnik für Zubehör gehört inzwischen zum Standard-Repertoire der Hörgeräte-Technik. Insbesondere für Telefonate oder für eine Verständigung auf größere Distanz (z.B. in Vorträgen) ist sie inzwischen das Mittel der Wahl und dient ohne Zweifel elementaren Bedürfnissen des täglichen Lebens. Sie in "Kassengeräten" nicht vorzusehen, würde bedeuten, die Versicherten von diesen Alltagserfordernissen grundsätzlich auszuschließen.

Externes Bedienmodul (Fernbedienung)
Die Funktionalität eines aktuellen digitalen Hörsystems lässt sich ohne Fernbedienung nicht sinnvoll bedienen. Der aus analogen Zeiten stammende Kippschalter am Gerät ist hierfür nur eine schlechte Notlösung. Zu einer zweckmäßigen "Fernbedienung" gehört allerdings, dass sich alle Funktionen direkt und durch eigene Tasten bedienen lassen. Dazu zählen die Programmwahl, das separate Zuschalten der T-Spule und die Regelung der Lautstärke.

T-Spule 
Die induktive Technik mit T-Spule ist nach wie vor die einzige Lösung, Hörsysteme im öffentlichen Raum an Höranlagen anzukoppeln. Dies wird auch auf absehbare Zeit so bleiben. Hörsysteme ohne T-Spule auszugeben, heißt daher, ihre Träger von der Inklusion im Theater, im Kino, am Fahrkartenschalter, beim Vortrag oder beim Gottesdienstbesuch auszuschließen. Technisch ist es dabei unerheblich, ob die T-Spule in das Gerät fest eingebaut ist oder über ein externes Zusatzgerät drahtlos angekoppelt werden kann.

(b) Technische Anforderungen an Hörhilfen für an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit (WHO 4)

Unter den Funktionalitäten von Hörsystemen, die dem aktuellen Stand der Technik zuzuordnen sind, gibt es zwei weitere, die speziell Menschen mit an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit allgemeine Gebrauchsvorteile im täglichen Leben bieten oder die Teilhabe erst ermöglichen. Sie sind daher in der entsprechenden Festbetragsgruppe als Pflichtbestandteile einer GKV-Versorgung zusätzlich vorzusehen:

  • Drahtlos-Handmikrofon
    zur Überwindung auch kürzerer Distanzen bei der Kommunikation in lauter Umgebung, in Gruppen, bei Vorträgen
  • Bluetooth-Ankoppelung für Telefon
    zum beidohrigen Telefonieren und zur klaren, direkten Tonübertragung als Unterstützung des Sprachverständnisses am Telefon

Die vor 4 Jahren eingeführten Qualitätsanforderungen haben zu einem seit langer Zeit notwendigen Ausmusterungsprozess von alter Technologie aus dem Angebot der Hörgeräte-Hersteller geführt. Inzwischen stellen die überholten Minimalanforderungen an "Kassengeräte" aber faktisch ein neues Qualitätshemmnis dar. Die Anpassung der Anforderungen an den aktuellen Stand der Technik ist daher dringend geboten. Das wäre nicht nur im Sinne der Versicherten, sondern auch im Sinne des gesetzlichen Auftrags einer qualitativ hochwertigen, dem Stand des medizinischen Fortschritts folgenden Versorgung.

Stellungnahme: Die neuen Festbeträge für Hörhilfen müssen den aktuellen Stand der Medizintechnik berücksichtigen!