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Deutscher Schwerhörigenbund e. V.

Ausgabe 06/2018

Vorwort des Vizepräsidenten des DSB e.V., Dr. Norbert Böttges

Liebe Leserinnen und Leser!

Wenn es um die Teilhabe und die Kostenübernahme von Leistungen für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen geht, werden uns immer wieder neue Urteile von unseren Mitgliedern und Lesern zugespielt. Vieles in der Rechtsprechung wiederholt sich. Glücklicherweise. Wenn es anders wäre, müsste uns das beunruhigen. Deshalb besprechen wir auch nichtjedes neue Urteil. Manches Urteil macht aber auch stutzig. Sei es, dass ein RichterArgumente gelten lässt, die man inzwischen für untauglich hält, sei es, dass ein Urteil allem, was man bisher glaubt verstanden zu haben, widerspricht.

Ein solches Urteil macht derzeit die Runde. Das Sozialgericht Stuttgart hat am 24.07.2078 unter dem Aktenzeichen S 9 R 3390/16 die Kostenübernahme für eine FM-Anlage durch die gesetzliche Krankenkasse verneint. Dabei hat es eine drahtlose Übertragungsanlage zu einem „Hilfsmittelzum mittelbaren Behinderungsausgleich” erklärt und folgert daraus, dass die Krankenkasse nur leistungspflichtig sei, falls durch Hilfsmittel des unmittelbaren Behinderungsausgleichs (in diesem Fall Hörsysteme) das Grundbedürfnis des Hörens nicht ausreichend befriedigt werden könne.

So weit, so gut. Nun hatte die Klägerin geltend gemacht, dass mit ihrer Hörversorgung ein ausreichendes Hörverständnis im unmittelbaren Nahgespräch und ohne Störschallbedingungen erreicht werde. Beim Hören und Verstehen in größeren Gruppen und Räumen, bei Störschallbedingungen sowie bei undeutlichem Sprechverhalten bestündenjedoch weiterhin Verständnisschwierigkeiten. Dieser Situationsbeschreibung widerspricht das Gericht nicht. Deshalb muss man aus der weiteren Argumentation folgern, dass das Sozialgericht Stuttgart ein Hörverständnis im unmittelbaren Nahgespräch und ohne Störschallbedingungen für einen ausreichenden Behinderungsausgleich hält.

Das entspricht der Rechtsauffassung von vorzwanzig Jahren. In der Folge des Urteils des Bundessozialgerichtes (BSG) von 2009 hat sich die Rechtsprechung der Sozialgerichte inzwischen grundlegend neu ausgerichtet. Bereits 2009 hat das BSG festgestellt, dass das Maß der notwendigen Versorgung verkannt werde, wenn die Krankenkassen ihren Versicherten Hörgeräte nur zur Verständigung „beim Einzelgespräch unter direkter Ansprache” zur Verfügung stellen. Und Leser von „Spektrum Hören” erinnern sich an die Feststellung des Sozialgerichts Aachen, dass „Besprechungen, Konferenzen, Tagungen nicht über die Anforderungen hinausgehen, die auch im privaten Alltag zu bewältigen” seien (SH 2/20 18).

Nach diesem Urteil gehört schon einiges an Unbekümmertheit dazu, ein Hilfsmittel zu verweigern, welches - vom Gericht unwidersprochen - erst ein Verstehen im Störschall und in größeren Gruppen ermöglicht. Lassen wir uns also nicht vonjeder Gerichtsentscheidung ins Bockshornjagen. In diesem „Spektrum Hören” finden Sie wieder einige Beiträge zu interessanten rechtlichen Neuerungen. Und natürlich ist es gut, dass wir vom DSB Ratsuchenden mit unserer neuen unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) jetzt noch intensiverzur Verfügung stehen können (siehe Seite 25)!

Mit herzlichen Grüßen
Dr. Norbert Böttges
Vizepräsident DSB

 

Teilhabe/Rehabilitation

  • Änderungen der Hilfsmittel-Richtlinie bieten erhebliches Potenzial für bessere Hörversorgun

Die Hilfsmittel-Richtlinie (HilfsM-RL) regelt Voraussetzungen und Ablaufder Verordnung von medizinischen Hilfsmittelnfür Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen. Sie wird zwischen Ärzten und Krankenkassen verhandelt; die Betrofienen haben über die Verbände der Selbsthilfe ein Antragsrecht. Genau ein solcher Antrag, der gemeinsam vom Deutschen Schwerhörigenbund (DSB) und Pro Retina betrieben wurde, hatjetzt zu Änderungen an der Richtlinie geführt, die bei der Versorgung mit Hörhilfen allgemein, für Menschen mit Hör-Seh-Einschränkungen im Besonderen sowiefür die Erstattung von FM-Übertragungsanlagen eine große Wirkung entfalten durften.

  • Jetzt auch online: Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) des DSB

Zu den örtlichen EUTB-Beratungsstellen des Deutschen Schwerhörigenbundes (DSB) ist im Juli noch das Beratungsprojektfiir Hessen dazu gekommen. Und am 15. September ging das neue DSB-Beratungsportal online. Damit ist die Teilhabeberatung des DSB für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen komplett (siehe „Spektrum Hören“ 5/2018). Zusätzlich zu den örtlichen Beratungsstellen in den Bundesländern können Ratsuchendejetzt also ihre Anfragen auch direkt im Internet stellen. Im Folgenden stellen wir Ihnen das neue Onlineportal vor.

  • Gehörlosengeld: Ein bunter Flickenteppich...

Gewährung und Höhe des Blinden- und des Gehörlosengeldes liegen in der Verantwortung der Bundesländer. Sie sind seitjeher ein bunter Flickenteppich. Der Versuch, ihn im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes zu vereinheitlichen und zu einem universalen Teilhabegeldfür Menschen mit hochgradigen Behinderungen zu machen, ist gescheitert. Es bleibt also dabei: Während es Blindengeld in allen 16 Bundesländern gibt, gilt das für das Gehörlosengeld nurfür einige wenige. Im März dieses Jahres ist Thüringen in die Gruppe der Länder eingetreten, die Gehörlosengeld gewähren. Und das mit einer äußerst interessanten Variante. Herbert Hirschfelder ist kürzlich nach Thüringen gezogen und berichtet von seiner persönlichen Erfahrung mit dem neuen Gesetz. Und nebenbei von einem geldwerten Rat der neuen ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB).

  • Landesregierung NRW fordert höhere Behindertenfreibeträge

Die Freibeträge, die Menschen mit Behinderungen bei der Einkommensteuer geltend machen können, wurden 1975 festgelegt und seitdem nicht mehr erhöht. Kein Wunder; dass sie - gemessen an den tatsächlich entstehenden Kosten - inzwischen nicht mal mehr als die Hälfte ihres seinerzeitigen Betrages wert sind. Um diesem Ärgernis abzuhelfen, hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (NRW) jetzt einen Vorstoß im Bundesrat gemacht.

  • Kostenübernahme Lichtsignalanlage: Bundeteilhabegesetz in Betrieb nehmen!

Gesetze sind nicht zuletzt dazu da, dass man sie anwendet. Das gerät in der Praxis öfter aus dem Blick. Mit dem Bundesteilhabegesetz wurden neue Regeln eingeführt, wie Kranken- und Rentenversicherungen, Jobcenter; Arbeitsagenturen und andere Kostenträger des Sozialrechtes künftig einen „Bedarf“ ermitteln sollen. Ein schlüssiges, vierstufiges Vorgehen. Es wird mit einiger Sicherheit in Vergessenheit geraten, wenn die Versicherten die Kostenträger nicht daraufhinweisen undfestlegen. Genau das haben wirjetzt in einem Fall getan. Mit Erfolg.

  • Hochgradig parallel-Die erstaunlichen Leistungen unserer Sprachwahrnehmung

Immer wieder erscheint es erstaunlich, dass es mit 22 oder gar nur zwölfElektroden im Innenohr möglich ist, Sprache klar und deutlich zu verstehen und sogar mit einigem Erfolg und Genuss Musik zu hören. Hat unser natürliches Gehör nicht 15 000 Sinneszellen pro Ohr? Leiten davon nichtjeweils 3 500 Zellen die Schallwahrnehmung an das Gehirn weiter? Wie soll das dann mit einer Übertragungfunktionieren, die nur aufzwölf oder 22 Kanälen „funkt“?

Termine/Veranstaltungen

  • Literaturseminar beleuchtet die Niederlande

Die Niederlande: Windmühlen, Holzschuhe, Trachten, Käse, Tulpen. Und dann versucht man, mit dem Auto nach Hilversum zufahren, weil man Radio Hilversum gehört hat. Und fährt undfährt und findet es nicht... Das Literaturseminar für Hörgeschädigte in Paderborn beschäftigte sich dieses Jahr mit den Niederlanden.