Ausgabe 04/2022
Liebe Leserinnen und Leser,
es ist schon lange her, dass schwerhörige Gemeindemitglieder für sich und ihre Leidensgenossen besondere Gottesdienste organisierten, damit sie akustisch besser den Lesungen und der Predigt folgen konnten. Zu der Zeit eilten „fliegende“ Handelsreisende mit einem Bauchladen voll technischem Gerät von Stadt zu Stadt und priesen ihre teils selbst gebauten Hörhilfen an. Es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis Hörgeräte in die reguläre Gesundheitsversorgung Einzug hielten.
Heute herrscht im Gesundheitswesen eine weitgehende Professionalisierung. Gut ausgebildete Hals-Nasen-Ohren(HNO)-Ärzte und hoch qualifizierte Hörakustiker haben die medizinische und technische Versorgung von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen übernommen, die gesetzlichen und privaten Krankenkassen übernehmen die Kosten. Niemand mit Hörverlust muss heute in Deutschland ohne eine passable Hörversorgung auskommen. Die Bedeutung der Selbsthilfe, der Zusammenarbeit von Betroffenen, ist dadurch trotzdem nicht geringer geworden. Ihre Aufgaben haben sich nur gewandelt.
Erste Aufgabe der Selbsthilfe ist nach wie vor der Austausch der Betroffenen. Wer länger dabei ist, hat dabei oft eine erstaunliche medizinische und technische Fachkenntnis erworben. Das Besondere aber - und von professionellen Helfern kaum nachzubildende - ist die persönliche, die ganzheitliche, die Innensicht, die Menschen aufgrund ihrer eigenen Beeinträchtigungen, ihrer eigenen Grenzerfahrungen entwickeln. So entsteht ganz natürlich ein Austausch auf Augenhöhe. Hemmungen, Grenzen, ja sogar Scham- und Schuldgefühle lassen sich auf dieser Grundlage ansprechen, aufarbeiten, persönliche Lösungswege aufzeigen. Unterschiedliche Erfahrungen geben Perspektiven und Orientierung für eigene, individuelle Entscheidungen.
Ist das medizinische und technische Umfeld der Hörbeeinträchtigung besprochen, hilft vielen der gelegentliche Anschluss an Gleichbetroffene. So können sie in geschütztem und unterstütztem Rahmen den technischen und sozialen Umgang mit ihren kommunikativen Beeinträchtigungen erleben und üben. Ob dies Geselligkeit oder Vorträge, Stadtführungen oder Kinobesuche sind - schrittweise die erlebten Ausgrenzungen zurückzudrehen, schafft Mut, Energie und Strategien, sich auch in ungeschützten Lebensräumen wieder selbstbestimmztu bewegen. Selbsthilfegruppen bieten meist auch Zugang zu besonderen Vortrags- und Seminarangeboten, die über die verschiedenen Aspekte der Hörschädigung aufklären und Möglichkeiten ihrer Bewältigung trainieren.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten sind der Selbsthilfe außerdem viele sozialpolitische Aufgaben zugefallen. Mit jeder Gesetzesnovelle sind neue Möglichkeiten der Partizipation der Behinderten- und Patientenvertretung entstanden. Das gilt für die Bundesebene genauso wie für die Länder-und kommunale Ebene. Oft beraten, teilweise bestimmen hier Vertreter der Selbsthilfe bei Entscheidungen von unmittelbarer Wirkung auf das Gesundheitswesen oder den öffentlichen Raum mit. Und aus den Möglichkeiten sind Erforderlichkeiten geworden; eine immense Aufgabe für die Vertreterinnen und Vertreter der Selbsthilfe, die ja meist ehrenamtlich unterwegs sind.
Selbsthilfe ist deshalb heute genauso wichtig wie früher. Und sie ist ein weites Feld für engagierte Betroffene, die sich mit ihren persönlichen Interessen, beruflichen Erfahrungen und individuellen Stärken nützlich machen möchten. Deshalb: Nutzen Sie, machen Sie mit in der Selbsthilfe!
Norbert Böttges
Sozialpolitik/Recht/Bauen
- Die Sechs-Jahres-Causa ... Muss vor Gericht
In der „Spektrum Hören“-Ausgabe 6/2021 wurde bereits berichtet, dass zwei Ersatzkassen
neuerdings die Wiederversorgung mit Hörsystemen nach sechs Jahren verweigern. Diesem Verhalten haben sich inzwischen eine dritte Ersatzkasse und verschiedene Betriebskrankenkassen angeschlossen. In der Beratungsarbeit des Deutschen Schwerhörigenbundes e. V. (DSB) häufen sich die Fälle. Wie können Betroffene reagieren?
Neues aus den Verbänden
- Passantenfragebogen zum Thema Hörbarrieren
Das Motto des diesjährigen europäischen Protesttags „Tempo machen für Inklusion - barrierefrei zum Ziel“ hat der Bonner Ortsverein des Deutschen Schwerhörigenbundes e.V. (DSB) zum Anlass genommen, einen neuen Fragebogen zur Kampagne „Gemeinsam gegen Hörbarrieren“ zu entwerfen. Dieser eignet sich gut, um bei öffentlichen Aktionen mit den Passantinnen und Passanten ins Gespräch zu kommen.
Teilhabe/Rehabilitation
- Aktion zum europäischen Protesttag in Bonn
Am 5. Mai 2022 war der Verein der Schwerhörigen und Ertaubten Bonn Rhein-Sieg-Kreis e. V. (VSE) mit dabei bei den Aktionen zum europäischen Protesttag für die Gleichstellung der Menschen mit Behinderung. Der VSE ist der Bonner Ortsverein des Deutschen Schwerhörigenbundes e. V. (DSB). Lesen Sie im Folgenden den Bericht der Aktiven zur Aktion.
- Transkriptions-Apps: Sprache verschriftlichen im Alltag
Wenn es im Alltag mit dem akustischen Sprachverstehen kritisch wird, sind Schriftdolmetscher in der Regel nicht verfügbar. Dank verschiedener Transkriptions-Apps können sich Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer in solchen Situationen Gespräche nahezu in Echtzeit verschriftlichen lassen. Mitarbeitende der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung des Deutschen Schwerhörigenbundes e.V. in Nordrhein-Westfalen (EUTB DSB NRW) haben für ihre Beratung verschiedene Apps unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse dieser Betrachtung können Sie im Folgenden nachlesen.
Termine/Veranstaltungen
- Informationstage des DSB: Inklusion auch für Hörgeschädigte
Die regionalen Informationstage des Deutschen Schwerhörigenbundes e.V. (DSB) gehen in ihr drittes Jahr. Ursprünglich als Gelegenheit zum vereinsinternen länderübergreifenden Austausch gedacht, haben sie sich inzwischen auch als Informationsmöglichkeit und Diskussionsforum für Außenstehende etabliert.
- DSB-Selbsthilfetage 2022 in Frankfurt (Oder)
Zu seinen Selbsthilfetagen lädt der Deutsche Schwerhörigenbund e. V. (DSB) gemeinsam mit dem DSB-Ortsverein Frankfurt (Oder) und dem DSB-Landesverband Brandenburg in diesem Jahr nach Frankfurt (Oder) ein. Interessierte und engagierte hörgeschädigte Menschen treffen sich vom 9. bis zum 11. September 2022 im Kleist-Forum unter dem Motto „Empowerment - für einen selbstbewussten Auftritt Hörbeeinträchtigter im Ehrenamt und im Beruf“.
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