Der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) begrüßt die Versichertenbefragung der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zur Hörhilfenversorgung, deren Auswertung jetzt vorgelegt wurde. Er erkennt darin das Bemühen der GKV, die Bedarfsgerechtigkeit der gegenwärtigen Hörhilfenversorgung gemäß dem Sachleistungsprinzip zu ermitteln und zu überprüfen.
Der DSB stellt fest, dass das Sachleistungsprinzip für Hörhilfen gemäß höchstrichterlicher Rechtsprechung konkretisiert wird durch den Anspruch der Versicherten auf eine bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder entsprechend dem aktuellen Stand der Technik, soweit dies Gebrauchsvorteile im täglichen Leben betrifft. Dazu gehört das Sprach-verstehen in anspruchsvollen alltäglichen Hörsituationen wie zum Beispiel im Störgeräusch und in größeren Gruppen. Ebenfalls zu diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gehö-ren nach allgemeiner Auffassung auch typische berufliche Hörsituationen wie Besprechun-gen, Vorträge und Fortbildungen, Telefonieren und Kundengespräche, weil diese in analoger Form genauso Bestandteil des alltäglichen Gebrauchs sind.
Aufzahlungsfreie Versorgung und Versorgung mit Mehrkosten
Ein Ergebnis der Befragung ist, dass die überwiegende Mehrzahl der Versorgungen (70 %) mit Mehrkosten erfolgt. Diesem Ergebnis stellt der DSB die Gewichtung der Geräteeigen-schaften gegen, wie sie die Betroffenen in der Befragung selbst vorgenommen haben. Die beiden am höchsten bewerteten Geräteeigenschaften sind das Sprachverstehen und die Unterdrückung von Störgeräuschen. (Diese etwas unscharfe Frageformulierung interpretiert der DSB an dieser Stelle als „Sprachverstehen im Störgeräusch“.) Demgegenüber werden Optik und Unsichtbarkeit am geringsten bewertet.
Der DSB schließt daraus: Mehrkosten übernehmen die Versicherten vor allem aus audiologischen Gründen. 50 % der Versicherten zahlen dafür Mehrkosten in Höhe von 885 Euro oder mehr. Das ist unbefriedigend und es müsste auch unbefriedigend für die Krankenkassen sein.
Bewertung der Zufriedenheit
Wenn auch plausibel, so ist eine Befragung nach der „Kundenzufriedenheit“ immer mit Vorsicht zu interpretieren. Allgemein anerkannt ist, dass in solche Bewertungen sehr persönliche Aspekte einfließen und die realistische Skala im Ergebnis deshalb immer um einiges in Richtung „unzufrieden“ zu verschieben ist. So fällt bei den Ergebnissen zum Beispiel auf, dass die Zufriedenheit mit der Versorgung (also mit der Arbeit der Hörakustiker*innen) größer ist als die mit den Hörsystemen selbst. Das legt hinsichtlich der Zufriedenheit eine positiv eingefärbte („Gefälligkeits“-) Bewertung nahe.
Weiter wird festgestellt, dass die Zufriedenheit nicht mit der Höhe der Mehrkosten korreliert. Dieses auf den ersten Blick überraschende - und von der GKV positiv bewertete - Ergebnis ist nicht nur sachlich unplausibel (siehe dazu weiter unten), sondern widerspricht auch allen Erfahrungen, die der DSB in seiner täglichen Beratungsarbeit sammelt. Wenn auf der ande-ren Seite 50 % der Befragten gar kein zweites Gerät zum Vergleich erprobt haben, fehlt vie-len offensichtlich der Vergleich zu einer anderen Preis- und Technologiestufe. Auch stellt die Befragung selbst fest, dass Erwartungshaltung und Mehrkostenhöhe in einem Zusammenhang stehen. Zufriedenheit und Mehrkostenhöhe orientieren sich also stark an der Erwartungshaltung (und durchaus auch der „Kassenlage“) des Versicherten und nicht unbedingt am tatsächlich erzielten Versorgungsergebnis.
Der Versorgungsanspruch: bestmöglicher Hörausgleich
Wie erwähnt, bewerten die Befragten das Sprachverstehen und die Unterdrückung von Stör-geräuschen als die wichtigsten Geräteeigenschaften. Da muss auffallen, dass gerade zu diesen beiden Aspekten die größte Unzufriedenheit mit dem Versorgungsergebnis geäußert wird. Wie passt das zu der im Übrigen geäußerten hohen Zufriedenheit?
Es gibt zentrale Geräteeigenschaften digitaler Hörsysteme, die unter Fachleuten unstreitig das Sprachverstehen in anspruchsvollen, alltäglichen Hörsituationen verbessern. Dabei geht es inzwischen nicht mehr nur um das Sprachverstehen im statischen Störgeräusch und in größeren Gruppen. Zum Stand der Technik gehört auch die Reduzierung von Wind- und Im-pulsgeräuschen, die erheblich zum Sprachverständnis im Straßenverkehr oder in Kantinen- oder Restaurantsituationen beitragen. Auch die Tatsache, dass sich Hörsituationen dyna-misch entwickeln und Hörsysteme wechselnden Richtungen von Sprache und Lärm folgen können, gehört heute zum Grundrepertoire der digitalen Signalverarbeitung.
All diese Entwicklungen berücksichtigen die Anforderungen der GKV nicht, die die Kranken-kassen 2013 in ihren Festbetragsgruppen für Hörsysteme festgelegt haben und immer noch gelten. Geräte mit diesen („aufzahlungsfreien“) Eigenschaften findet man heute nur noch in einigen Produktnischen, und hier darf man sie getrost als „Retro-Geräte“ bezeichnen. Wie die Auswertung der Befragung selbst feststellt, geben insbesondere die Filialisten unter den An-bietern, aber auch Einzelakustiker mittlerweile regelmäßig Geräte mit wesentlich besseren Merkmalen auch aufzahlungsfrei aus.
Es wird Zeit, die Anforderungen an den Stand der Technik anzupassen
Leider folgen bei weitem nicht alle Anbieter diesem Vorgehen. Retro-Geräte der beschriebe-nen Art dienen - im Vergleich mit besser ausgestatteten Geräten - immer noch als Abschreckungsgeräte, um Versicherte von der Notwendigkeit einer Versorgung mit Aufzahlung zu überzeugen.
Der DSB fordert deshalb die GKV auf, ihre 2013 in den Festbetragsgruppen definierten Mi-nimalanforderungen an eine Kostenübernahme für Hörsysteme dem Stand der Technik an-zupassen.
Aus Sicht des DSB gehören dazu:
- Adaptive Richtmikrofontechnik, adaptive Störgeräusch-Unterdrückung und adaptive Sprachanhebung in mindestens 10 unabhängigen Frequenzbändern
- Impulsschall-Unterdrückung (wichtig für Sprachverstehen in entsprechenden Umge-bungssituationen wie Straße, Bahnhof, Kantine etc.)
- Windgeräusch-Unterdrückung (wichtig für Sprachverstehen und Gefahrenerkennung z.B. beim Fahrradfahren, im Straßenverkehr bei Windverhältnissen etc.)
- Drahtlos-Vorbereitung (wichtig für Sprachverständigung auf Entfernung, zum Beispiel in Vorträgen, Fortbildungsveranstaltungen oder beim Sport)
- T-Spule (für die Anbindung an Sprachsignale im öffentlichen Raum)
- Qualifizierte Fernbedienung (wahlweise als Einzelgerät oder durch App auf Smart-phone)
Dass es für diese Gebrauchsvorteile bisher keine Messverfahren gibt, die diese objektiv und in Zahlen belegen können, ändert nichts an den tatsächlich gegebenen Gebrauchsvorteilen selbst. Geeignete, dynamische Messverfahren sind auch auf absehbare Zeit nicht in Entwicklung. Dieses Versäumnis kann aber nicht den Versicherten zur Last gelegt werden.
Kein Komfort
Der DSB widerspricht in diesem Zusammenhang der von Hörakustikern und Krankenkassen gerne geäußerten Auffassung, bei Funktionalitäten wie adaptiver Steuerung der Mikrofone, Sprachanhebung oder anderen im Alltag vorteilhaften Eigenschaften handele es sich um Komfortfunktionen. Diese Qualifizierung hält dem Anspruch einer bestmöglichen Angleichung an das Hörvermögen Gesunder nicht stand. Es handelt sich um zentrale Eigenschaften, die wesentliche Gebrauchsvorteile im täglichen Leben bieten. Die Gebrauchsvorteile einer drahtlosen Übertragung sind auch in der Hilfsmittelrichtlinie beschrieben und anerkannt.
Gemessen am Stand der Technik sind es ausnahmslos seit Jahren gut eingeführte Stan-dardtechnologien der digitalen Signalverarbeitung, die keinen Innovationsschutz mehr ge-nießen müssen. Der DSB fordert bewusst keine aktuellen herstellerspezifischen Spitzen-technologien (z.B. Opn, binaurale Direktionalität, Own Voice etc.). Hier bleibt - und soll be-wusst bleiben - weiterhin Raum für eine Abgrenzung nach oben und freie Wahl von Komfortfunktionen.
Keine unangemessenen Mehrkosten für die GKV
Der DSB widerspricht auch der Befürchtung, dass durch eine Anhebung der Minimalanforde-rungen an aufzahlungsfreie Hörsysteme auf die GKV erhebliche Mehrkosten zukommen. Wie die Auswertung der Versichertenbefragung selbst feststellt, bieten bereits heute Filialisten und durchaus auch Einzelakustiker ihren Kunden von vornherein aufzahlungsfreie Systeme mit einer wesentlich höheren audiologisch-technischen Ausstattung an. Sie kommen dadurch schneller zu besseren Ergebnissen, sparen damit Zeit und erzielen eine höhere Kundenzufriedenheit.
Die Preisunterschiede bei Hörsystemen beruhen nicht auf unterschiedlichen Herstellkosten, sondern weitgehend auf einer Preis- und Markenpolitik der Hersteller. Es ist bekannt, dass einige Hersteller Einheitsgeräte vertreiben, die von vornherein alle Funktionen in sich bergen und je nach „Modellstufe“ gesperrt oder freigeschaltet werden. Die Anpassung der GKV-Anforderungen an den Stand der Medizintechnik würde lediglich dazu führen, dass verblie-bene „Retro-Geräte“ aus dem Angebot verschwinden. Damit würde die technologische Ein-stiegsschwelle wieder auf qualitativ gut ausgestattete, hochwertige Geräte mit aktueller Technik angehoben.
Der DSB fordert die GKV auf, zu handeln
Der Schlüssel zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung ihrer Versicherten mit Hörsystemen entsprechend dem Stand der Medizintechnik liegt bei der GKV. Wie es gesetzlich vorgesehen ist, müssen die im Festbetragsgruppen-System 2013 festgelegten „Features“ von erstattungsfähigen Geräten endlich dem Stand der Technik folgend fortgeschrieben werden. Dies fordert der DSB insbesondere im Hinblick auf die Versicherten, die sich eine Aufzahlung finanziell nicht leisten können. Dafür schlägt der DSB plausible Richtwerte vor. Von dieser Maßnahme erwartet der DSB aus den genannten Gründen keine wesentlichen Mehrkosten für die GKV. Eine Versagung der Fortschreibung würde auf der anderen Seite bedeuten, den Versicherten ihren gesetzlichen Anspruch auf einen bestmöglichen Hörausgleich vorzuent-halten oder sie weiterhin zu zwingen, ihren Anspruch mühsam und individuell per Widerspruch und Gerichtsentscheidung erstreiten zu müssen.
Der DSB fordert die GKV auf, ihrer Verantwortung gegenüber den Versicherten gerecht zu werden und die Festbetragsgruppen für Hörsysteme an die Anforderungen ent-sprechend dem aktuellen Stand der Technik anzupassen.
Deutscher Schwerhörigenbund e.V.
Dr. Norbert Böttges - Vizepräsident